Artikel: Koordination der Katastrophe

SANIERUNG

Nach Gefahrgutunfällen sind schnelle Entscheidungen gefragt. Unzugängliche Ortspläne und Ansprechpartner außer Dienst sind zwei von vie­len Tücken, mit denen Einsatzkräfte dabei zu kämpfen haben. VON ULRICH BORCHARDT

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Dipl.-Ing. Ulrich Bor­chardt,
öbv. Sachver­ständiger
u.a. für Unfälle mit
wassergefährdenden
Stoffen.

Wie koordiniert muss die Schadensbehebung nach einem Gefahrgutunfall sein? Natürlich optimal, wird der­jenige sagen, der sich am „grü­nen Tisch“ mit der Thematik aus­einandergesetzt hat. Die Prakti­ker unter den Lesern wissen jedoch, dass gerade die Koordina­tion einzelner Maßnahmen der Schadensbeseitigung und Scha­denseindämmung Probleme auch logistischer Art mit sich bringt.
Die neue Gesetzgebung, d.h. das Umweltschadensgesetz, gibt denjenigen, die sich mit der Ein­grenzung des ökologischen Schadens und natürlich der Be­hebung bzw. Beseitigung ausein­andersetzen, zusätzliche Fragen zur Entscheidung auf.

Eine wichtige Rolle spielen da­bei unter anderem:

  • die Art des Schadstoffes,
  • die Situation: Unfall mit Tankkraftwagen (TKW), mit verpack­ten Gütern, Bahnunfall etc.,
  • die örtlichen Gegebenheiten, wie zum Beispiel Erreichbarkeit, Autobahn, Gleisanlage, Ver­schiebebahnhof etc.,
  • Geographie, Geologie, Hydro­geologie (Grundwasser), Biodi­versität,
  • die Situation nahe gelegener Oberflächengewässer in Verbin­dung mit der Kanalisation und nicht zu vergessen
  • die Leistungsfähigkeit der Einsatzkräfte. Damit sind natür­lich nicht nur Feuerwehr und Poli­zei, sondern auch zuständige sons­tige Behörden wie zum Beispiel Untere Wasserbehörde, Sanie­rungsunternehmen, Schadenver­ursacher, Versicherer und Gutach­ter zu verstehen. Alle Beteiligten haben das gemeinsame Ziel, Ge­fahren für Mensch und/oder Natur zu beseitigen.

Bei der Erstbeurteilung eines Gefahrgutunfalls wird jedoch der freigesetzte Stoff oftmals sträflich vernachlässigt. Dabei sollte er bei der Behebung oder Eindämmung eines Gefahrgutunfalls eigentlich an erster Stelle stehen. Denn was nützen die beste Erfahrung, pro­fessionelles Verhalten und eine Top-Ausrüstung, wenn die Ge­fährlichkeit des Schadstoffs nicht die gebührende Berücksichti­gung findet?

Achtung: Schadstoff
Immer wieder kommt es vor, dass Einsatzkräfte nach Gefahrgutun­fällen gesundheitlich beein­trächtigt werden. So stellte man nach einem Bahnunglück mit Vinylchlorid-Brand im Jahr 1996 bei den Einsatzkräften Ver­änderungen im Blut fest. Auch bei einem Epichlorhydrin-Unfall in Bad Münder 2002 ist man be­züglich der Eigensicherung mit dem Stoff so umgegangen, als wäre eine Zuckerlösung ausge­treten. Zur Verdeutlichung: Wenn Epichlorhydrin zu riechen ist, lässt sich eine gesundheitli­che Gefährdung nicht mehr aus­schließen.

Viele Gefahrstoffaustritte ha­ben die Beteiligten gut im Griff. Wird jedoch die Information zum ausgetretenen Stoff vernachläs­sigt, so liegt ein Basisfehler im Rahmen der Gesamtkoordination vor, der fatale Folgen haben kann. Denn gegenüber ausgetre­tenen oder freigesetzten Stoffen ist eine erhöhte Sensibilität not­wendig, die mehr erfordert, als nur den Hinweis, Fenster und Tü­ren zu schließen.

Beispiel Heißbitumen
Wie wichtig es ist, Informationen zur Topografie, Geografie und Gewässersituation auch im Hin­blick auf das Umweltschadensge­setz zu besitzen, lässt sich gut an einem Unfall auf der Autobahn veranschaulichen, bei dem Heiß­bitumen aus einem Tankfahrzeug austrat. Das Problem mit diesem Stoff ist, wie der Name schon sagt, die Temperatur.
Bei 220 °C ist es keine Lö­sung, die Substanz umzupumpen. Sie kann auch nicht auf ein­fache Art und Weise eingedämmt werden. Ein weiterer Nachteil ist, dass die Flüssigkeit in der Kana­lisation erstarrt. Das wiederum bedeutet im Rahmen der Ge­samtsanierung aber auch einen Vorteil. In diesem Fall gelangte das Heißbitumen in eine Regen­wasserkanalisation zur Entwäs­serung der Autobahn und damit auch in einen Bachlauf. Dieses Oberflächengewässer speiste ein Feuchtgebiet vor einem Regulie­rungsbauwerk.
Gruben als Sammelstelle
Die Kanalisationsanlage, aber auch das Gewässer sowie zusätz­lich zwei bis drei Kilometer des Bachlaufs wurden geschädigt. Das Heißbitumen gelangte zu­dem auch in den Böschungsbe­reich der Autobahn und damit in ein stark abschüssiges Wald­stück, das durch eine parallel zur Autobahn verlaufende Land­straße begrenzt wird.
Koordinative Maßnahmen sollten die Situation zielgerichtet erfassen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Bitumen er-kaltet und somit den Stockpunkt erreicht, hob man Gruben im Bö­schungsbereich aus, in denen das Heißbitumen einlaufen konnte.

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Heißbitumen lässt sich kontrolliert in Gruben auffangen, wo es erkalten kann.

Ein weiteres Abfließen zur Land­straße hin und damit in den paral­lel verlaufenden Graben mit An­schluss an den Bachlauf wurde dadurch minimiert. Nicht so er­freulich waren jedoch die Verun­reinigung des Bachlaufs und die damit zusammenhängenden Rei­nigungsarbeiten, da erst mit Er­forschung des Fließweges Maß­nahmen am Rückstaubauwerk vorgenommen werden konnten. Insbesondere ließ sich das Was­ser aufstauen, so dass ein weite­rer Abfluss von Bitumen und Bi­tumen-Wasser-Gemisch verhin­dert werden konnte.halten, oder auch Straßen- und Autobahnmeistereien.

Ortskenntnis unabdingbar
Bei der Schadensbehebung nach Gefahrgutunfällen können nicht immer alle Maßnahmen optimal zusammenlaufen, das ist unbe­stritten. Es dauert jedoch häufig zu lange, anhand von Kartenmaterial und Entwässerungsplänen Infor­mationen über die örtlichen Gege­benheiten zu erhalten. Dadurch vergrößert sich der Schaden noch. Unverständlich ist auch, warum die Koordination von Behörden untereinander teils so schwierig ist, etwa wenn die Untere Wasser­behörde das Amt für Stadtentwäs­serung erreichen muss, um Infor­mationen zur Kanalisation zu er
Offenbar sind Öl- und Gift­alarmpläne in der Bundesrepu­blik Deutschland nicht flächen­deckend vorhanden. Sie würden den schnellen Zugriff auf Behör­den ermöglichen und benennen auch Sachverständige und Un­ternehmen, die spezielle Gerät­schaften vorhalten.

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Gewässerverunreinigungen können durch geeignete Maßnahmen wie eine Absperrung örtlich begrenzt werden.

Die Unkenntnis des Verlaufs einer Regenwasserkanalisation kann schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: Nach einer TKW-Havarie traten rund 8.000 Liter Benzin aus und gelangten in die parallel beziehungsweise mutig verlaufende Regenwasser­kanalisation einer stark befahre­nen, vierspurigen Straße.
Der Verlauf der Kanalisation wurde erst dadurch deutlich, dass das Benzin nach 1,5 Kilometern im Kanal in einen naheliegenden Fluss eintrat. Evakuierungsmaß­nahmen in der benachbarten Ort­schaft ließen erkennen, dass die Regenwasserkanalisation in den Vorfluter mündete. Bis dann Maß­nahmen anlaufen, ist sprichwört­lich das Kind in den Brunnen ge­fallen.
Die Koordination von Maß­nahmen hängt auch davon ab, wie gut die Feuerwehr mit Materialien und Kenntnissen ausge­stattet ist. Es kann von Einsatz­kräften, die für die Gefahrenab­wehr nach Bränden ausgerüstet sind, nicht generell erwartet werden, dass ausreichend ver­fügbare und vor allen Dingen ge­eignete Mittel zur Eindämmung von Schadstoffen vorhanden sind. Vielfach ist auch nur eine provisorische Maßnahme mög­lich. So werden Verkehrsflächen oftmals von Feuerwehren gerei­nigt, deren Einsatzmittel, wie etwa Ölbinder, im Einzelfall nicht dazu geeignet sind, die Verkehrssicherheit wiederherzu­stellen.
Besonders in Nordrhein-West­falen kommt auf die Feuerweh­ren infolge eines Urteils des Oberverwaltungsgerichts Müns­ter vom 16. Februar 2007 (Az: 9A4239/04) eine schwerwie­gende Verantwortung zu. Nach Meinung des Gerichts müssen die Feuerwehren dort auch die Verkehrssicherheit ermitteln und die Freigabe der Fläche erteilen. Zwar hat das Innenministerium signalisiert, dass zivilrechtliche oder haftungsrechtliche Ansprü­che gegen sie abgedeckt sind. Strafrechtlich bleibt jedoch der Einzelne verantwortlich.

Umweltschäden durch den Einsatz
Das Thema Umweltschadensge­setz wird die Handelnden bei der Entscheidungsfindung zusätzlich fordern. Im zuvor geschilderten Bitumenfall kann es sein, dass beim Aufstauen des Bachlaufs vor dem Regulierungsbauwerk das optisch einfach zu erken­nende Feuchtgebiet geschädigt und eine Renaturierung im Sinne des Umweltschadensgesetzes notwendig wird.
Daher müssen die Entschei­dungsträger in einem solchen Fall direkt vor Ort auch über den Erhalt oder gegebenenfalls die Renaturierung eines Feuchtge­bietes befinden. Dafür wären aber allgemeine Informationen der Behörden und der direkte Zu­griff darauf anhand eines Öl- und Giftalarmplans sehr hilfreich.
Eine gute Möglichkeit ist es, gleich zu Beginn der Maßnahmen Sachverständige oder Inge­nieurbüros zum koordinierenden Team hinzuzurufen.
Wer nach Unterstützung, nach Aufklärung oder Doku­mentation verlangt, dem sollte eines klar sein: Für eine zuver­lässige und vor allen Dingen ge­richtsfeste Entscheidungsfin­dung sollte zwingende Voraussetzung sein, dass der Sachverständige ausreichende Erfahrung auf dem Gebiet der Unfälle mit wassergefährdenden Stoffen mitbringt. Gegebenen­falls kann die Unkenntnis darü­ber, wie sich ein Stoff im Boden verhält, zur Folge haben, dass sperrende Horizonte im Unter­grund ungewollt einfach durch­bohrt werden und die austreten­den Flüssigkeiten dadurch den Grundwasserspiegel erreichen können. Bei Gebäuden sind au­ßerdem der Schädigungsgrad und der Einfluss des Stoffes auf die Gebäudesubstanz miteinzu­beziehen.

Fachliche und finanzielle Mittel
Enorm wichtig sind auch die Aus- und Weiterbildung derjeni­gen, die mit der Koordination, Behebung und Sanierung von Unfällen mit wassergefährden­den Stoffen zu tun haben. Hierin eingeschlossen ist natürlich auch die finanzielle Unterstützung von Einsatzkräften, etwa im Hin­blick auf das Vorhalten von Ge­rätschaften. Klammert man die Einsatzkräfte von TUIS einmal aus: Wo in Deutschland sind zum Beispiel leistungsfähige Förder­pumpen für Ex-Gemische anzu­mieten?
Allein das Fehlen eines Öl-und Giftalarmplans führt dazu, dass viel zu viel Zeit bis zu effek­tiver Hilfe verstreicht. Es ist somit neben den entsprechenden Fi­nanzen auch die Zurverfügung­stellung von Arbeitszeit für prä­ventive Tätigkeiten notwendig. Zum Beispiel sorgt allein die Kontaktaufnahme mit der Feuer­wehr und die Abstimmung ihrer Leistungsgrenzen für eine we­sentliche Vereinfachung der Koordinierung von Unfällen mit wassergefährdenden Stoffen.

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GHS-Symbol für wassergefährdende Stoffe
Hält man die nöti­gen Informationen vor, zum Bei­spiel in einem Öl- und Gift-alarmplan, kön­nen dort auch Unter­nehmen aufgelistet werden, die sich auf die Sanierung von Unfallereig­nissen mit wassergefährden­den Stoffen spezialisiert haben.
Ist der Schaden aber einmal eingetreten, kommt die Erkennt­nis, dass die Ausbildung mangel­haft war und Gerätschaften feh­len, immer zu spät. Manchmal geht dann auch schon die Re­gressforderung ein.

www.gutachterbuero-borchardt.de